Dramaturgische Fingerübung

Als Dramaturgin berate ich regelmäßig, ob Produzenten ihr Herzblut an einen Stoff vergeben sollten – oder nicht. Und die Entscheidung darüber treffe ich zuallererst anhand des großen Erzählbogens. Szenengestaltung und Dialoge bestimmen aber schlussendlich nicht weniger die Qualität eines Films. Mich mit diesen kleinen, dramaturgischen Einheiten zu beschäftigen, macht mir Spaß und natürlich besonders die Frage, warum eine Szene funktioniert und eine andere nicht. Scott Myers pflegt auf seinem Blog Go Into The Story eine tolle Tradition. Mit wöchentlich wechselndem Themen nimmt er dort täglich und seit mittlerweile 3.332 Tagen einen Filmdialog unter die Lupe: Was liegt hinter den Worten der Protagonisten verborgen, das diesen Dialog so einzigartig macht? Da sich Scott immer über Dialog-Vorschläge und -Kommentare freut, nutze ich sie regelmäßig als dramaturgische Fingerübung.

Beim Thema Triumph (nach einem Vorschlag von Shannon Corbeil) musste ich zuallererst an den Schluss von „Der Club der Toten Dichter“ (Drehbuch von Tom Schulman) denken:

O Captain, mein Captain.

Mit diesem Zitat aus einem Walt Whitman-Gedicht triumphieren am Ende des Films die Freigeister. Die gesamte Szene veranschaulicht, wie schmal der Grad ist, ob jene gewinnen, die für eine freiheitliche Gesellschaft kämpfen – oder ob sie verlieren. Denn die Szene beginnt bereits mit einem vermeintlichen Triumph, der sich schnell ins Gegenteil verkehrt. Zwar hatten die Schüler mit ihrem Lehrer Keating (Robin Williams in einer seiner Paraderollen) die drögen Anweisungen zur Literaturanalyse aus den Büchern gerissen, aber die Freude darüber, dass der verknöcherte Ersatzlehrer diese nun nicht für seinen Unterricht nutzen kann, währt nicht lange. Denn nicht jede böse Seite oder jeder engstirnige Gedanke lässt sich ausmerzen. Und nur ein einziges Buch (hier gehört es dem Ersatzlehrer) kann Gedanken weitertragen, auch jene, die wir schon längst überwunden glaubten. Doch dies kann sich die Freiheit ebenso zunutze machen wie die Unterdrückung. Ein Einzelner kann die Menschlichkeit verbreiten und wird erfolgreich sein, wenn andere gemeinsam mit ihm aufstehen und ihre Stimme erheben – gegen alle Widerstände.

Das Transkript der Szene aus „Der Club der toten Dichter“ und mein Beitrag dazu auf Englisch finden sich unter Daily Dialogue auf Go Into The Story.