Ambivalenter Held par excellence

Die „Die Nile Hilton Affäre“ ließ mich als Zuschauer atemlos zurück. In Form eines äußerst spannenden Thrillers vermittelt der diesjährige Sundance-Gewinner in der Sektion „World Cinema“ ein Gefühl dafür, warum die Menschen beim arabischen Frühling auf die Straße gegangen sind. Schon dafür lohnt sich der Kinobesuch, gleichzeitig hat Regisseur und Drehbuchautor Tarik Saleh eine wunderbare Dramaturgie entworfen, die uns als Zuschauer auf Tuchfühlung mit seinem ambivalenten Helden gehen lässt. Hier drei dramaturgische Gründe für den Kinobesuch.

Filmstill Noredin findet intime Fotos

Ambivalenz

Kairo 2011, eine Stadt voller Widersprüche. Es herrschen die Reichen und Mächtigen. Korruption, Dekadenz und die Gier nach Geld bestimmen den Alltag. Mittendrin lebt Noredin (Fares Fares) – ein ganz gewöhnlicher Polizist. Oder wie es der Regisseur selbst formuliert:

einer der korruptesten Polizisten, die ihr jemals gesehen habt.

 

Dass Noredin korrupt ist, darüber kann man sich ziemlich von Beginn des Films an keine Illusionen mehr machen. Einen Teil der Sympathie erlangt Noredin durch jene alte, dramaturgische Formel, dass wir bei ihm im Gegensatz zu den meisten anderen Figuren noch ein Rest von Anstand oder Ehre erkennen. Aus den Figuren des James Ellroy-Universums kristallisiert sich beispielsweise immer derjenige als Hauptfigur heraus, der ein Bisschen weniger schlecht ist als alle anderen. Zusätzlich wird bei „Die Nile Hilton Affäre“ deutlich, wie sehr in dieser Gesellschaft das Verhalten alternativlos ist. Noredin muss selbst seinen Hauswart bestechen, damit sein Fernseher repariert werden kann. Korruption ist für Regisseur Tarik Saleh auch eine kulturelle Frage:

Korruption in Ägypten ist nicht das Gleiche, wie Korruption in Europa. In Ägypten entstand die Korruption, weil es für die Menschen keinen anderen Weg gab, um zu überleben. Es gab immer ausländische Machthaber. So entstand ein System neben dem System, um mit den Römern, den Griechen, den Türken, den Engländern oder den Franzosen, wer auch immer gerade die Macht hatte, zu kommunizieren. Man brauchte ständig jemanden, der in seinem Namen sprach. Dieses System war sehr stabil, es bestand seit tausenden von Jahren. Nach der nationalen Revolution durch die die ausländischen Machthaber verdrängt wurden, entstand nicht sofort ein komplett neues System. Deshalb wird Korruption in Ägypten nicht so wahrgenommen wie woanders. Das Wort Korruption selbst zum Beispiel: Es gibt in Ägypten, also auf Arabisch das Wort „wasta“ und das bedeutet „Gefallen“ oder „wen man kennt“. Jeder in Ägypten braucht „wasta“, egal wer. Sogar der Präsident. Deshalb ist es ist kein negativ, sondern ein positiv belegtes Wort.

Noredin ist gefangen und daher führt seine Charakterentwicklung nicht dazu, dass er die Korruption nach und nach ablegt. So wie er das Kettenrauchen nicht aufgibt, wandern die Geldscheine der Toten immer wieder in seine Tasche und gleichzeitig gibt er die Suche nach der Wahrheit nicht auf, wer in jener Luxussuite des Hotels Nile Hilton eine berühmte Sängerin ermordet hat. Und diese Ambivalenz lässt mich den Film sicherlich noch ein zweites, drittes und viertes Mal ansehen (was für eine ausführliche dramaturgische Analyse ja auch nötig ist).

Lieblingsszene

Die dramaturgische Eleganz zeigt sich bereits in einer einzigen Szene, die nicht nur meine Lieblingsszene des Films sondern sicherlich auch der letzten Monate ist, weil sie die Hauptfigur und die ganze Situation so treffend schildert und zudem mit dem Wissen der Figuren und der Zuschauer spielt. Ein Taxifahrer kutschiert Noredin durch Kairo und weil das Tauwetter des arabischen Frühlings bereits eingesetzt hat, erzählt er währrendessen unverblümt von den Protesten. Er ist voller Hoffnung, dass die Demonstrationen etwas bewegen können, während wir als Zuschauer wissen, dass die Öffnung in Ägypten bereits wieder Geschichte geworden ist.

Jeder Satz des Taxifahrers schreit nach Zustimmung seines Fahrgastes gegen das Unterdrückerregime. Noredin, der selbst Teil dieses Regimes ist, nimmt das Erzählte mit „Hmm“-Lauten hin. Doch dem Taxifahrer reicht das nicht und fordert eine Positionierung ein, ob er auch am Jahrestag der Polizei an den Tarhir-Platz kommen werde. Ja, meint Noredin daraufhin, weil sie ihn als Polizisten dort vermutlich hinschicken würden. Wir als Zuschauer kennen ihn zu diesem Zeitpunkt gut genug, um zu wissen, er wird den Taxifahrer nicht bei der Staatssicherheit verpfeifen. Der Taxifahrer weiß dies nicht und versucht danach krampfhaft seine Aussagen wieder zu revidieren.

Überraschung beim Pay-off

Und dann gibt es noch einen dritten dramaturgischen Grund, um sich „Die Nile Hilton Affäre“ anzusehen, weil es der Autor damit ein hervorragendes Beispiel gibt, wie elegant Planting und Pay-off funktionieren können. Die Herausforderung bei Tschekows Regel „Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert“ liegt ja immer darin, dass Gewehr so zu verstecken, dass den Zuschauer der Schuss am Ende nicht langweilt. Weil ich nicht spoilern möchte (vielleicht hole ich das in ein paar Wochen nach, wenn einige den Film gesehen haben), bleibe ich vermutlich nun viel zu wage, aber ich würde den Effekt teilweise zerstören, wenn ich den Gegenstand konkret benenne. Das „Gewehr“ ist hier ein viel unschuldigerer Alltagsgegenstand und als ich fast meinte, der hätte seine Funktion erfüllt – verliert er seine Unschuld.

Der Kinostart ist am 5. Oktober, ein paar mehr Eindrücke im Trailer:

Rechte Bilder und Videos: Port au Prince